Mann sein unter Männern
Mann sein unter Männern
Oder: warum es nicht schwul ist, seine Brüder zu lieben
von Samuel Wohl
Bin ich schwul? Der Tag, an dem sich der erste Mann voller Entsetzen diese Frage stellte, war der Tag, an dem wir unsere Freiheit, MANN zu sein, auf dem Scheiterhaufen verbrannt haben.
Warum ich das so sehe, erkläre ich dir später. Zuerst möchte ich noch kurz in die Vergangenheit reisen. Und zwar in meine Pubertät.
Wie konnte es nur jemals so weit kommen?
Als Jugendlicher habe ich versucht, bestimmten Bildern von Männlichkeit und Ansprüchen gerecht zu werden, die nicht meine eigenen waren.
Ich versuchte zu sein wie Männer, die längst tot sind. Wie Männer, die ich nie persönlich getroffen habe oder am schmerzhaftesten von allen: so wie mein Vater mich, bewusst oder unbewusst, gerne gehabt hätte.
Dabei verfiel ich so sehr in einen Vergleich, ein Konkurrenzdenken mit anderen Männern, dass ich Männer oft als Gegner, ja fast schon als Feinde sah.
Ob im Beruf, im Sport oder meinen Hobbies – ich ertappe mich immer wieder dabei, wie ich denke: „Fuck, der macht das besser als ich. Der ist durchtrainierter als ich. Der ist talentierter als ich. Ich bin nicht gut genug!„
Dieses Gefühl habe ich früher auf die anderen Männer projiziert. Ich hab mich scheiße gefühlt und die waren daran schuld. Diese Wichser. Und natürlich konnte ich dann in Gedanken die Männer runtermachen, denen ich vermeintlich überlegen war, um mich nicht ganz so sehr wie ein Versager zu fühlen.
Jetzt gab es zwei Arten von Männern: Blöde Wichser denen ich mich unterlegen fühle und jämmerliche Lappen die ich runtermachen kann. Geiles Weltbild Samuel. Und dann wundere ich mich auch noch, dass ich kaum richtig gute Freunde habe und eigentlich alle Menschen inklusive mir selbst hasse.
HAHAHAHA DU BIST SCHWUL!
Was ich zu der Zeit wirklich gebraucht hätte, waren richtige Männerfreundschaften. Mit Männern abzuhängen und Dinge zu unternehmen, vor allem auch in Gruppen, ist unglaublich kraftvoll und bereichernd und hätte mich damals vielleicht aus dieser Abwärtsspirale herausgeholt – aber mit anderen Männern „Männersachen“ zu machen, diese Männer zu umarmen, in meine Welt, in mein Herz zu lassen, wäre das nicht irgendwie schwul oder so?
Das einzige, was noch schlimmer wäre als ein Versager ohne Freunde zu sein, wäre schwul zu sein. Was auch immer das genau bedeutet. Aber es muss etwas damit zu tun haben, total unmännlich und wertlos zu sein. Falsch zu sein. Und von dem Gefühl, falsch zu sein habe ich schon genug. Also jetzt bloß nicht noch schwul sein.
Der Moment des Zweifels: „Bin ich schwul?“
Bei Männerseminaren und Workshops die über mehrere Tage oder sogar Wochen gehen ist es immer faszinierend zu beobachten, wie es Männer, nach intensivem und brüderlichem Männerkontakt, erleichtert, wenn sie zum ersten Mal nach Tagen wieder eine attraktive Frau sehen.
Der Realitätsabgleich: „Gott sei dank, ich bin doch nicht schwul!“
Ach ja? Bist du dir ganz sicher? Dabei hast du zig andere Männer umarmt. Ja vielleicht sogar mit ihnen gekuschelt. Hast ihnen gesagt, dass sie „richtig geile Typen sind.“ Kannst du dir wirklich ganz sicher sein, dass du nicht schwul bist?
War doch nur Spaß, Mann!
Natürlich kannst du dir sicher sein. Denn männliche Nähe und Intimität – sich mit seinen Brüdern selbst und gegenseitig zu feiern und zu ehren – hat rein garnichts mit sexueller Ausrichtung zu tun. Und jetzt hast du sogar hier gelesen, dass du dir sicher sein kannst. Sozusagen ein Freibrief zum sicher sein!
Du bist dir immer noch nicht sicher? Oh je. Das kann nur eines bedeuten…
Es bedeutet, dass du Angst davor hast, dich in einer Männergemeinschaft zu öffnen, mit deinen Brüdern zu wachsen und wahre Männerfreundschaften zu knüpfen.
Das führt mich wieder zu meinem Ausgangspunkt zurück.
Der schlimmste Tag in der Geschichte des Mannseins war der Tag, an dem Männer angefangen haben, sich Gedanken darüber zu machen ob brüderlicher Umgang mit anderen Männern auch nur im entferntesten etwas negatives haben könnte.
Männer brauchen Männer
Genau wie ein Baum Wasser und Erde braucht um einen mächtigen Stamm zu bilden, brauchen wir Männer andere Männer um zu wachsen und zu gedeihen.
Wir brauchen intime, ehrliche und wahrhaftige Männerfreundschaften in denen wir gemeinsam lachen, weinen, feiern, singen, trauern, kämpfen und leben können.
Ohne andere Männer wäre ich niemals dahin gekommen, wo ich jetzt bin. Und das ist erst der Anfang. Da geht noch einiges. NOCH EINIGES!
Und ich bin mir absolut sicher, dass auch du noch unendlich ungenutztes Potential hast.
Aber nur der Kontakt mit Männern wird langfristig dazu führen, dass aus dem „Baukasten für den perfekten Mann“, nämlich dir selbst, auch etwas gebaut wird.
Glaub mir, das Teil baut sich nicht von alleine.
Doch durch diese ganze sich-mit-anderen-vergleichen-Scheiße hat der „Mann von heute“ total vergessen, sich die Werkzeuge zu besorgen, die er zum Bau des perfekten Mannes braucht.
Und genau deshalb gibt es die MALEvolution
Ich bin so dankbar, dass mich einer meiner besten Freunde damals mit zu einem Männerseminar geschleppt hat, denn ich wusste vorher gar nicht, dass es sowas gibt und was ich da all die Jahre verpasst habe.