Die sexuelle Matrix
Irgendwann zu Beginn meiner Zeit als Paula saß ich in unserem Aufenthaltsraum und faltete Handtücher aus dem Trockner. Ohne richtig zu bemerken, was mich beschäftigte, dachte ich über den Puff nach. Vera, eine meiner Lieblingskolleginnen, brütete neben mir am Tisch über ihren Unterlagen für die Heilpraktikerprüfung. »Paula«, sagte sie und sah auf, »wusstest du, dass die Leber nachwächst, wenn man ein Stück von ihr rausschneidet? Nur die Leber macht das. Beim Darm oder so passiert gar nichts. Aber die Leber bildet sich neu. Gruselig, oder?« Sie schüttelte sich. Ich sah sie an. »Kann ich dich was fragen?« »Klar. Hier sind die Unterlagen. Ich hab nächsten Mittwoch die Schriftliche. Frag kreuz und quer, ich muss alles wissen.« »Nein, was anderes.« Vera klappte ihren Ordner zu. »Okay, schieß los.« »Seit wann bist du schon hier?« »Seit einem halben Jahr. Aber vorher war ich im Palast, drei Jahre lang. Da bin ich dann weg, als die Betreiberin wechselte.« »Hm, okay. Also, was würdest du sagen sind die Nachteile in diesem Job?« Sie musterte mich: »Wie es dich verändert, meinst du?« Ich nickte vorsichtig. Vielleicht wollte ich es doch nicht so genau wissen? Vera legte den Kopf zur Seite. »Du wirst mit der Zeit vielleicht ein bisschen … nüchterner. Dann ist alles nicht mehr so aufregend.« Ich zog meine Stirn zusammen. »Das ist doch was Gutes, oder?« »Es ist dann nicht mehr so neu. Eher Routine.« »Ja, und würdest du sagen, das ist jetzt gut oder schlecht?«, hakte ich nach. Da wandte Vera sich mir frontal zu, nahm mein Gesicht in beide Hände, schaute mir fest in die Augen und sagte: »Süße, pass einfach auf, dass du nicht irgendwann bei jedem Mann denkst: »Ey, Alter, du kannst mich mal, du bist doch auch nur ein Schwanz.« Das war der erste Hurentipp meines Lebens. Und ich habe ihn mit mir getragen, solange ich im Puff war. Aber heute muss ich sagen: Der Sex im Puff hat ganz andere Dinge in mich eingebrannt als die Überzeugung, Männer seien per se nur ein Schwanz. Mit Nils und Markus und all den anderen, in deren Blicken ich mehr und mehr Traurigkeit, Resignation und Müdigkeit fand, begann ich zu entdecken, was ich heute als die »sexuelle Matrix« unserer Kultur bezeichne.
Diese sexuelle Matrix unserer Kultur definiere ich als das Netz aus Prägungen, Geboten, Verboten, Gewohnheiten, Filmen, Bildern und Geheimnissen, das unseren Sex umgibt. Die sexuelle Matrix ist die Voraussetzung dafür, dass Sex überhaupt etwas werden konnte, mit dem wir werben, den wir verkaufen und konsumieren können. Die sexuelle Matrix unterwirft uns einem kollektiven sexuellen Stress – aus dessen Fängen wir uns dann dadurch zu befreien versuchen, dass wir versuchen, sexuell »richtig« statt »falsch« zu sein. Und darunter, darin, unwissend, stumm und spürbar: ein Nils, ein Markus, ein Wolfgang, der um seine Freiheit trauert. Ein Mensch mit einer Sexualität, die in ihrem Potenzial ebenso komplex, begabt und ekstatisch ist wie die weibliche. Ja, die Welt der Prostitution ist reich an Skandalen und an menschlich empörenden Umständen, die Frauen wehtun, sie unterdrücken und ausnutzen. Es ist wichtig, dass wir all diese Aspekte beleuchten und lösen, statt sie zu verdrängen. Menschenhandel, Zuhälter, Zwang und kontraproduktive Gesetzgebungen. Hier möchte ich die sexuelle Not der Männer hinzufügen. Ich glaube, dass das männliche sexuelle Elend eines der folgenschwersten und gefährlichsten Probleme in unserer Welt darstellt und dass es tief verkannt, verdrängt und verschwiegen wird. Die Körper zwischen meinen Beinen, die Blicke in meine Augen, die Bewegungen von Händen über meine Haut – plötzlich begannen all diese Momente zu sprechen, schmolzen hinein in das Bild von Nils, der kopfschüttelnd bei uns im Flur stand und versuchte, die Tür zu diesem Drama hinter sich zu schließen. Im Puff lernte ich zu sehen, dass Männer in einem sexuellen Elend leben, welches ebenso tief ist wie das weibliche. Es mag anders sein als das weibliche Leiden und das weibliche sexuelle Trauma, aber es ist ebenso tief, ebenso tragisch und ebenso traurig. Seitdem ich im Puff gearbeitet habe, kann ich die Annahme, Männer kämen in unserer sexuellen Welt gut oder auch nur besser als Frauen zurecht, nicht länger teilen. Ich kann nicht länger sehen, dass ein vordergründiger Ablauf sexueller Funktionen irgendeinen Vorsprung bedeuten würde, wenn es – am Ende des Tages – um die Frage geht, ob der Sex in unserem Leben uns weich, glücklich und dankbar machen konnte. Männer als das sexuelle Geschlecht? Männer als die Siegerkaste beim Ficken? Dieses Klischee scheiterte vor meinen Augen, unter meinen Händen, in meinem Körper fundamental, und das ausgerechnet im Puff. Wenn wir der männlichen Sexualität gerecht werden wollen, müssen wir verstehen: Es gibt einen Unterschied zwischen Sex lieben und auf Sex fixiert sein. Und wir sollten uns den Gedanken erlauben, dass Männer auf Sex fixiert wurden – und dass sie ihn genau deswegen nicht wirklich lieben können. Können wir Menschen überhaupt irgendetwas lieben, das uns so sehr beherrscht und manipuliert, das uns die ganze Welt verkauft und androht, dass wir uns dabei verschulden und verraten werden? All das tut Sex, wie wir ihn heute leben und normal finden, den Männern an. Das ist, was Nils frustriert hat: Männer gehen nicht in den Puff, weil sie sich befreien, sondern weil sie sich unterwerfen. Ja, Männer erzählen nicht offen, wie abwertend und chauvinistisch sie über Frauen denken. Aber sie erzählen auch nicht, wie glücklich sie in der Nähe einer Frau (und einer Vagina) sind. Sie verschweigen nicht nur ihre Frauenfeindlichkeit, sondern auch ihre Frauenliebe. Und ich halte, wenn wir auf Freiergewalt zu sprechen kommen, zutiefst enttäuschte Liebe für ursächlicher als moralisch unterdrückte Verachtung. Könnte es sein, dass all diese großspurigen Jungs draußen rumlaufen und in den Puffs der Welt rumliegen und rummachen, weil sie sich nicht mehr trauen, zu schwärmen und zu lieben? Nein, wir bezahlen den Puff nicht nur dafür, unsere schmutzigen Fantasien auszuleben, unsere Mitmenschen schlecht zu behandeln und zu zeigen, wie ungezogen, unhöflich und sadistisch wir eigentlich sind – wir bezahlen ihn auch dafür, mit unserer Zärtlichkeit sensibel umzugehen. Uns nicht zu verraten, wenn wir schwärmen. Uns nicht zu verletzen, wenn wir lieben.–Aus dem Buch Lieb und teuer: Was ich im Puff über das Leben gelernt habe (ecowin Verlag)