Die Aufmerksamkeitslücke
Die Aufmerksamkeitslücke zur Wahrnehmung von Frauen und Männern
von Prof. Dr. Walter Hollstein
Am 19. November ist wieder einmal der „Internationale Männertag“. Er wurde 1999 in Trinidad und Tobago eingeführt und dann auch in Australien, der Karibik, Nordamerika, Asien, Europa, und Afrika begangen; schliesslich anerkannten ihn auch die Vereinten Nationen. Ingeborg Breines, Direktorin der Abteilung „Women and Culture of Peace“ proklamierte im Namen der UNESCO: „Dies ist eine großartige Idee, die zu mehr Gleichgewicht der Geschlechter führen wird“.
Das nun allerdings ist wohl eher ein frommer Wunsch: Seit mindestens zwei Jahrzehnten verschlechtern sich die Lebensbedingungen von Männern und Jungen signifikant. Ein feministisches Theorem, das die durchgängige Unterdrückung des weiblichen Geschlechts behauptet, lässt sich nicht mehr belegen. Das konzedieren international inzwischen auch renommierte Feministinnen wie Elisabeth Badinter oder Susan Faludi.
In Erziehung, Bildung und Gesundheit beispielsweise werden Jungen und Männer eindeutig benachteiligt; inzwischen verlieren auch mehr Männer ihren Arbeitsplatz als Frauen. Wurde einst die höhere Arbeitslosigkeit von Frauen als gesamtgesellschaftliches Skandalon bezeichnet, wird nun die höhere Arbeitslosigkeit von Männern als Selbstverständlichkeit genommen; sie ist jedenfalls für die Geschlechterpolitik kein Thema. In anderen Lebensbereichen ist die Situation für Buben und Männer noch erheblich gravierender. Im deutschsprachigen Raum bringen sich Männer drei- bis viermal häufiger um als Frauen, und für die Pubertät gibt es Zahlen, dass sich Jungen bis zu zehnmal mehr selbst töten als Mädchen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit von Buben ist um ein vielfaches höher als die von Mädchen.
Seit geraumer Zeit wissen wir, dass das angeblich starke Geschlecht in den Industrienationen mehr als fünf Jahre früher stirbt als das vermeintlich schwache. Je mehr die Gesundheitsforschung den Mann zum Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Arbeit macht, desto deutlicher wird, wie krank Männer in Wirklichkeit sind und wie krankmachend auch die Bedingungen, unter denen Männlichkeit gelebt und exerziert werden muss. Trotz solcher Erkenntnisse ändert sich nichts. Die Probleme von Frauen und Mädchen zu diskutieren, ist seit der Frauenbewegung „Mainstream“, die Probleme von Buben und Männern bleiben im gesellschaftlichen Diskurs peripher. Männer werden öffentlich noch immer als das „starke Geschlecht“ wahrgenommen und stilisieren sich häufig auch selber so.
Gerät Männlichkeit in die Diskussion, entzündet sich die Kritik – in traditionell feministischer Optik – an männlicher Macht. Dabei steht dann immer das ganze männliche Geschlecht zur Disposition. In Wirklichkeit sind Machtpositionen auf einen sehr kleinen Kreis von Männern beschränkt, die ihre privilegierte Stellung nicht nur auf Kosten von Frauen ausleben, sondern vor allem zum Schaden ihrer eigenen Geschlechtsgenossen, die nach wie vor die grosse Mehrheit der Lohnempfänger bilden.
Ebenfalls fällt aus dem Blickwinkel, dass der gesellschaftliche „Bodensatz“ von Obdachlosen, chronisch Kranken (zum Beispiel HIV-Infizierte), Randständigen, Wanderarbeitern u.a. fast ausschließlich männlich ist. So berechtigt die Kritik an männlicher Usurpation von Macht und Status sein mag, so verzerrt ist sie, wenn nicht zwischen Männern, männlichen Milieus und männlicher Schichtzugehörigkeit differenziert wird.Trotz dieser Entwicklungen wird der Ohnmachts-Seite traditioneller Männlichkeit nach wie vor wenig Aufmerksamkeit zuteil. Der Leistungs- und Erfolgsaspekt dieser Männlichkeit hindert Männer auch selber daran, den eigenen Blick auf ihre Schwierigkeiten und Probleme zu richten. Zum Zeitgeist gehört inzwischen, Männlichkeit nur noch mit den negativen Assoziationen von Gewalt, Krieg, Naturzerstörung, sexueller Belästigung und Missbrauch zu verbinden.
Auch einstmals positive Qualitäten von Mann-sein werden mittlerweile gesellschaftlich umgedeutet. Männlicher Mut wird als männliche Aggressivität denunziert, aus Leistungsmotivation wird Karrierismus, aus Durchsetzungsvermögen männliche Herrschsucht, aus sinnvollem Widerspruch männliche Definitionsmacht und das, was einst als männliche Autonomie durchaus hoch gelobt war, wird nun als die männliche Unfähigkeit zur Nähe umgedeutet.
Angesichts des pro-feministischen Mainstreams in Politik, Wissenschaft und Medien werden solche „Konstruktionen“ auch nicht problematisiert. Die Forschung zu dieser Entwicklung aus dem anglo-amerikanischen Sprachbereich spricht bereits von einer öffentlichen „Verachtung der Männer“ und – parallel zur Misogynie – von der gezielten Ausbreitung von Männerfeindlichkeit (Misandrie).Diese Tatbestände sind wohl damit zu erklären, dass der Feminismus über Jahrzehnte eine Vorstellung von „political correctness“ aufgebaut hat, die es verbietet, Benachteiligungen und Ungerechtigkeiten zuungunsten von Männern auch nur zu thematisieren. Damit wird aber der Geschlechterkampf unnötig angeheizt statt Geschlechterdemokratie zu fördern. Zwischen Frauen und Männern bestehen biologische und soziale Unterschiede; erstere muss man berücksichtigen, letztere beseitigen.Armut, Krankheit, Süchte, Gewalttätigkeit, Vandalismus, sozialer Abstieg und gesellschaftliche Perspektivlosigkeit nehmen bei Jungen und Männern dramatisch zu. Trotz dieser drastischen Augenscheinlichkeit werden diese geschlechtsspezifischen Tatbestände bisher praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Dementsprechend ignoriert man auch die Notwendigkeit von Prävention.
Im Gegensatz zu einer stark veränderten Sozialisation für Mädchen ist die Sozialisation von Buben weithin traditionell geblieben. Frühzeitig wird der Junge in ein gesellschaftliches Korsett von Männlichkeit gepresst. Die Sozialisations- und Männerforschung belegt im Rückgriff auf Untersuchungen aus unterschiedlichen Feldern, dass Buben unerbittlich auf Leistung und Erfolg getrimmt werden.
Dazu gehört umgekehrt, dass ihnen Körperkontakte und Zärtlichkeit früh abtrainiert werden, dass sie eigene Probleme schon in einem Alter lösen sollen, in welchem sie dazu noch gar nicht fähig sind und dass sie zu einer männlichen Autarkie angehalten werden, die Beziehungsfähigkeit, Freundschaft und soziale Netze zu tertiärer Lebensbedeutung herabstuft. Identitätsstiftende und tragende Qualitäten wie Introspektion, Empathie und Soziabilität werden in der männlichen Sozialisation nach wie vor vernachlässigt.
Umgekehrt erleben Jungen die Erziehungseinrichtungen mit all den Lehrerinnen, Erzieherinnen, Psychologinnen und Sozialarbeiterinnen als Fortsetzung der häuslichen Mutter-Dominanz. In Kindergärten, Horten, Ganztagseinrichtungen, Schulen und Beratungsinstanzen stoßen sie ständig an weibliche Verhaltensmuster und Grenzsetzungen. In ihrer Motorik und Renitenz drücken sie dann häufig ihren Widerstand gegen die Erziehungseinrichtungen als weibliche Bastionen aus. Niemand wird den vielfältigen frauenpolitischen Initiativen vorwerfen wollen, dass sie sich nicht um die Belange von Buben und Männern kümmern. Allerdings muss kritisiert werden, dass die allgemeine Politik hartnäckig die Bedürfnisse von Buben und Männern ignoriert. Das verletzt im tiefsten ebenso die Prinzipien demokratischer Gleichbehandlung wie das die politische Praxis der Gleichstellung alltäglich tut.
Gleichstellungsarbeit und sogar das neue Instrument des „gender mainstreaming“ werden als Frauenpolitik verstanden und dementsprechend einseitig umgesetzt. Aktionen, Beratung, Förderprogramme und Publikationen sind exklusiv auf Frauen und Mädchen ausgerichtet. Ein illustres Beispiel seit Jahren ist das „Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann“, das sich – trotz der Erwähnung des männlichen Geschlechts in seiner Amtsbezeichnung – ausschliesslich um die Belange von Frauen kümmert.
Wird solche Einseitigkeit kritisiert, verweisen die Gleichstellungsbüros – wie z.B. in Basel- auf ihre wenigen Väterbroschüren. Auch das ist eine eingeschränkte Frauenwahrnehmung. Männer sind zunächst einmal Männer und dann – möglicherweise – irgendwann auch Väter.
Sie wollen nicht nur ihre Bedürfnisse als Väter – und das dann nicht einzig in einer Entlastungsperspektive für Frauen – wahrgenommen und verfolgt haben, sondern auch ihre Bedürfnisse als Männer. Selbiges fällt aber gänzlich aus der Arbeit der Gleichstellungsbüros. Das ist letztendlich nichts anderes als Sexismus, den die weibliche Gleichstellugnsfraktion ansonsten ja immer eifrig anprangert – aber eben nur, wenn es um Frauen geht. Männern müsste auch staatspolitisch der Gewinn einer veränderten Lebenseinstellung zu sich selber, zu Arbeit und Familie konstruktiv verdeutlicht werden. In diesem Zusammenhang merkt die junge amerikanische Feministin Susan Faludi an, dass man den Männern Wege weisen muss, die sie beschreiten können, so wie der Staat das gegenüber den Frauen seit den siebziger Jahren getan habe. Doch solche Worte verhallen in der Politik. Stattdessen nimmt die Misandrie von Tag zu Tag zu.Die Folgen davon werden kaum bedacht. Das Bild, das wir von uns als gemachtes haben, ist identitätsstiftend. Es gibt Halt, erlaubt Sinn, ist Lebenskompass und schafft Zukunft. Es zeigt uns täglich, wer wir sind und erlaubt uns überhaupt erst die Bewegung in Welt und Gesellschaft, wie der grosse Basler Zoologe Adolf Portmann eindringlich aufgezeigt hat. Ist dieses Bild negativ und verächtlich, führt es zu Identitätsstörungen.
Diverse Untersuchungen belegen mittlerweile überzeugend den engen Zusammenhang zwischen der Erosion des klassischen Männerbildes auf der einen Seite und der dramatischen Zunahme von psychischen Störungen bei Buben, von Jungengewalt oder Hooliganismus.
Es hat vor allem für heranwachsende Männer heutzutage den Anschein, dass männliche Qualitäten per se unrichtig sind und sie als angehende Männer irgendwie falsch gepolt erscheinen. Männlichkeit ist inzwischen in die Nähe des Pathologischen gerückt oder wird sogar schon freimütig als pathologisch bezeichnet.
Pädagogische Richtlinien, Erziehungsliteratur und der Alltag in unseren Schulen tendieren immer mehr dazu, den Buben jene Eigenschaften abzutrainieren, die offenbar als besonders männlich und ergo besonders störend empfunden werden: Bewegungsdrang, Motorik, Lautsein, Kräftemessen, Wettkampfverhalten oder Selbstdarstellungen.
„Jungen stehen im Schatten leistungsfähiger Mädchen,“ haben die Erziehungswissenschaftler Klaus Hurrelmann und Gudrun Quenzel vor kurzem in einem Essai konstatiert: „Es wird Zeit, ihnen zu helfen“. Und: „Lasst sie Männer sein“. Dann würde sich wohl auch erübrigen, unmännlich gewordene Männer dadurch wieder männlich zu machen, indem man ihnen operativ ein „energisches Kinn“ verpasst. So jedenfals das aktuelle Angebot einer Schönheitsklinik in Zürich.